Wer die Website von Temu aufruft, nimmt zuerst einmal an einem Gewinnspiel teil – und gewinnt natürlich. Mit einem «Startguthaben» von 100 Dollar kann es losgehen.
Damit ist bereits klar: Im neuesten Onlineshop aus dem Reich der Mitte gibts neben Shopping auch Gaming. Je mehr neue Anmeldungen anderer Nutzer man generiert, desto mehr der China-Ware bezieht man kostenlos.
Eine Art Schneeballsystem sorgt dafür, dass die aktivsten Kunden-Akquisiteure Gratisprodukte im Wert von mehreren hundert Dollar bestellen können, wie das Magazin
«Time» recherchierte.
Freunde verraten als Geschäftsprinzip
Gezielt wird das Belohnungssystem des Menschen angepeilt: «Verkaufe mir deine Freunde, und Du brauchst nichts zu bezahlen», lautet das Konzept.
Und je mehr neue Kunden man abliefert, desto länger kann man sich im Schlaraffenland von Temu kostenlos bedienen.
Kundinnen empfehlen via Instagram: Angebote auf Temu.
Den Kunden werden dazu ohne Pause neue Rabatte nachgeworfen, wobei es unmöglich ist herauszufinden, welches der «Originalpreis» war – oder ob es einen solchen überhaupt je gegeben hat. Wer im übrigen freiwillig seine Telefonnummer angibt, erhält gleich weitere 20 Prozent Nachlass auf den nächsten Einkauf (im Wert von maximal 30 Dollar).
Noch nicht in Europa angekommen
Vorerst beschränkt sich das Auslandgeschäft des zum
Pinduoduo-Konzern gehörenden Billigsthändlers Temu auf die USA. Dort liegt dessen App laut dem Informationsdienst
SensorTower aktuell auf Platz 2 der am häufigsten installierten Gratis-Download-App (einfach weil sie wegen des Superbowl diese Woche durch der Sport-App von Fox von Platz 1 verdrängt wurde).
Das hat auch mit den Preisen zu tun, die selbst notorischen Billigheimern wie Alibaba und Shein einheizen: drahtlose Ohrhörer von Lenovo? Kostet weniger als 10 Franken. Eine Packung mit drei BHs? 6 Franken. Und Damenmode jeglicher Art kostet maximal 30 Dollar.
Inflation als Starthilfe
Experten erklären sich den überraschenden Erfolg in den USA am Ende des letzten Jahres mit der stark steigenden Inflation. Viele Amerikaner wollten sich auf Ende Jahr besonders billig mit Geschenken eindecken.
Die günstigen Preise sind ebenfalls leicht erklärbar:
1. Die Produkte sind bunt zusammengewürfelt und stammen vor allem aus der Überschussproduktion der chinesischen Fabriken, die über das Handelssystem von Pinduoduo direkt an die Kunden liefern.
2. Werbekosten entstehen nicht, denn die Kunden werben alle neuen Kunden selber an – weil sie dafür «gratis» weiter einkaufen können.
3. Kundenservice ist inexistent. Die Zahl der Klagen über Artikel, die nie ankommen, und Beschwerden, die nie beantwortet werden, sind Legion.
Die US-Konsumentenorganisation Better Business Bureau hat innerhalb kürzester Zeit nach dem Start des Onlineshops eine rekordverdächtige Anzahl Klagen zu Temu erhalten. Beantwortet wurde noch keine der Beschwerden.
Die Muttergesellschaft Pinduoduo ist ebenfalls berüchtigt: Auf ihren Plattformen soll sie massenweise Fälschungen und Illegales verkaufen. Der chinesische Konzern mit fast einer Milliarde Kunden erwirtschaftete 2021 knapp 15 Milliarden Dollar Umsatz und 2,2 Milliarden Dollar Gewinn. Aktuell beträgt sein Börsenwert 117 Milliarden Dollar.
Das TikTok-Prinzip im Shopping
Ein weiterer Motor der Temu-Verkäufe ist schliesslich das, was die
Consumer-Tech-Expertin Connie Chan «discovery-based shopping» nennt: Auf der App oder der Plattform gerät man in einen endlosen Scroll mit Produkten. «So wie TikTok Ihnen eine endlose Reihe von Videos zur Unterhaltung bietet, liefert Temu eine endlose Reihe von Dingen, die Sie vielleicht kaufen möchten, um sich die Zeit zu vertreiben, Sie zu inspirieren oder Dinge zu finden, die Ihr Leben verbessern könnten.»
Auch dieses Prinzip kennen wir schon – etwa aus den endlosen Ikea-Gängen, an deren Ende man mehr Accessoires im Einkaufswagen hat als ursprünglich geplant. Jetzt wird es digital weiter ausgereizt.