Ob Kleider, Brillen, Kosmetik oder Schmuck: Bald lassen sich alle persönlichen Artikel, die man online einkaufen kann, auch online anprobieren. Virtual Fitting oder Virtual Dressing nennt sich das, und die technischen Möglichkeiten werden von Monat zu Monat grösser.
Das nächste Kapitel in der Entwicklung: Die Accessoires schmiegen sich nicht mehr um Fotos oder Live-Streams der Kunden, sondern kleiden deren Avatar ein – also einen virtuellen Zwilling.
Snap hat Nase vorne
Zurzeit ist es die Firma Snap, die mit ihrer Technik «AR Shopping» das Fashion Business revolutioniert. AR steht für Augmented Reality und bezeichnet die Verbindung von (Live-)Bildern mit Filtern, die zusätzliche optische Elemente auf den Bildschirm projizieren, zum Beispiel Kleidungsstücke über einem menschlichen Körper.
Snap ist mehr als Snapchat
Das 2011 gegründete Softwareunternehmen aus Venice in Kalifornien ist bekannt für seine App Snapchats, die vor allem bei den unter 30-Jährigen beliebt ist für den Austausch von Kurzvideos. Aktuell macht sie mit der Software
AR Shopping Schlagzeilen, die mittels Augmented Reality (AR) eine «reales» Ankleideerlebnis auf Bildschirmen ermöglicht.
Snap entwickelt auch Hardware wie die Brille Spectacles, deren neueste Version Augmented Reality unterstützt und mit zwei Kameras ausgestattet ist. Eingestellt hat Snap indes die Produktion der Minidrohne Pixy.
Als neuester Kunde für seine AR-Technik konnte Snap soeben den schwedischen Modekonzern H&M gewinnen. In den USA ist die Technik für Modekonzerne bereits seit August verfügbar.
Amazon kündigte im November eine Partnerschaft mit Snap an und will nun Tausende von Kleidungsstücken für die Kundschaft «anprobierbar» machen. In Frankreich und England bietet Snap das Try-on-tool ebenfalls bereits an.
Die Modehändler müssen im Gegensatz zur früheren Version mit dem neuesten Update der Snap-Applikation nur noch über zweidimensionale Fotos ihrer Artikel verfügen. Das macht die Anwendung entscheidend leichter.
Zalando-Ableger in Zürich
Neben den Kaliforniern sind auch Schweizer Software-Entwickler in der Entwicklung der Anprobier-Technologie vorne dabei. Seit die Nummer 1 des deutschen und Schweizer Online-Modehandels, Zalando, vor zwei Jahren das ETH-Spin-off Fision übernommen hat, haben die Codeschreiber in Zürich eine virtuelle Umkleidekabine entwickelt, die auf Avataren basiert.
Avatare sind virtuelle Doppelgänger. Bis anhin kennt man sie meist als vom User neu kreierte «Körper», die nicht der realen Statur entsprechen (müssen). Die neuen «Anprobier-Avatare» hingegen besitzen die (möglichst präzise) Körperform des realen Nutzers. Diese wird durch Eingabe der Körpergrösse und des Gewichtes.
Das Berliner Unternehmen will die Technik mit den in Zukunft direkt in seine Shopping-App integrieren.
Violett bedeutet: zu eng | Bild: Zalando Testshop (Screenshot)
Wie reagieren die Kunden auf Avatare?
Einen ersten Testlauf hat
Zalando zu Weihnachten 2022 zusammen mit Puma gestartet. Im Pilotshop können Kunden T-Shirts und Hosen mit verschiedenen Grössen an Avatare mit ihrer eigenen Körperform anpassen und sehen, wo das Stück zwicken würde beziehungsweise (zu) locker bliebe. Mit dem Test will Zalalndo erfahren, wie die Kundschaft mit dem Virtual Dressing-Tool interagiert, lässt Zalando verlauten. Ein verständliches Argument.
Perfect Corp: Schmuck anprobieren – online
Die taiwanesische Softwarefirma Perfect Corp hat eine «Fitting»-Applikation speziell für Halsschmuck entwickelt.
«Necklace Virtual Try-on» geht deren Kundschaft wortwörtlich an den Hals. Für einmal braucht es dazu keine Handy-App.
Das Tool kann ganz herkömmlich in einem Browser auf dem grossen Screen angewendet werden. Laut Perfect Corp. würden bereits 450 Marken deren AR-Lösung einsetzen.
Das Besondere an der Technik: Die Schmuckketten machen die Bewegungen der Kundin mit, die sich bei einer Anprobe ergeben.
Sowohl Snap, als auch Zalando betonen, die neuen Fitting-Anwendungen sollen in erster Linie das Einkaufserlebnis der Kunden verbessern und so die Verkäufe steigern.
«Die innovativen AR-Kleidungsstücke (…) sind eine zugängliche und unglaublich immersive Möglichkeit, die H&M-Community in die digitale Modewelt einzubinden und zu unterhalten», lässt zum Beispiel Brooke DeWitt verlauten, die Projektverantwortliche von Snap.
Ziel «Retouren minimieren»
Ein weiteres – und ernsthafteres – Ziel der Unternehmen, die man gegenüber der Kundschaft weniger betonen möchte, sind: weniger Retouren. Schweizer Onlinekunden schicken heute einen Viertel der bestellten Ware zurück, wie der Paketdienst DPD kürzlich bekannt machte. Bei Kleidungsartikeln soll die Retourenrate sogar zwischen 50 und 60 Prozent liegen.
Das geht ins Geld – der Onlinehändler: Nicht umsonst testen immer mehr von ihnen die Abschaffung der Gratisretouren (oder denken zumindest daran).
Das
Branchenmagazin «Textilwirtschaft» deutscht die Absicht in klaren Worten aus: «Der Hauptgrund für die millionenschweren Investitionen dürfte im Renditekiller Nummer eins der Branche liegen: der hohen Retourenquote.»
Umwelt und Reputation leiden
Tatsächlich könnte das Thema Retouren für viele Unternehmen darüber entscheiden, ob für sie der Onlinehandel mit Textilien langfristig gewinnbringend sein wird. Denn Retouren gehen ins Geld und zerstören nebenbei den letzten Rest an Reputation der Modekonzerne: Sie sind weder finanziell noch in Sachen Umwelt nachhaltig.
Gelänge es Zalando und Co. hingegen, die Retourenrate auf ein einigermassen vernünftiges Niveau zu senken, so könnte das deren finanzielle und CO2-Bilanzen aufpolieren.